Dokumentenarchiv

Dr. Wolfgang Herrmann Kunsthistoriker in London
Gottried Semper, Bleistiftporträt, 1834
 

 

 

20. April 1988    

Gottfried Sempers Studienjahre ...

.. mit Dr. Wolfgang Herrmann - Kunsthistoriker in London

Ich habe Sempers Studienjahre aus zwei Gründen gewählt: einmal, weil kürzlich entdeckte Briefe ein verändertes Bild seiner Studienzeit geben, dann aber vor allem, weil sie eine Seite seiner Persönlichkeit beleuchten, die seinem theoretischem Werk für eine Reihe von Jahren eine bestimmte Richtung gab.

Der gewöhnlich über diese frühen Jahre gegebene Ablauf ist ihnen bekannt: Er studierte für einige Semester Mathematik in Göttingen, entschied sich dann für Architektur, ging zu Gärtner nach München, arbeitete für kurze Zeit an der Aufnahme des Regensburger Domes, war in ein Duell verwickelt und floh nach Paris, wo er Gauls Schüler wurde. Dieses etwas dürre Gerippe kann man jetzt mit etwas Fleisch und Blut versehen und ihm überhaupt eine neue Gestalt geben. 

Der junge Semper 16 oder 17 Jahre alt — erhielt seine humanistische Ausbildung in Hamburgs ältester und angesehendster Schule, dem Johanneum. Dessen Leiter war damals K. H. HIPP, ein noch heute anerkannter Mathematiker. Hipp erkannte bald Sempers natürliche Begabung für Mathematik, und es war Hipp, auf dessen dringenden Rat hin Semper sich für ein Studium der Mathematik an der Universität Göttingen entschied. Göttingen zählte unter den Mitgliedern seiner mathematischen Fakultät zwei Mathematiker von internationalem Ruf: K. F. GAUSS und B. F. THIBAUD. Semper belegte die Kollegien beider Männer, insbesondere das von Thibaud, aber auch das von A. HEEREN, dem großen Historiker des sozialen und ökonomischen Lebens der Völker der alten Welt, wobei es bedeutsam sein mag, daß das von Semper erwählte Kolleg Heerens die auf Zahlen gegründete „Statistik“, nicht „Sozialgeschichte“ war - er wählte es, obwohl er Heeren, dessen Sohn sein enger Freund war, persönlich gekannt haben muß.

Außerdem studierte Semper Physik und las Newtons Principia, die er „ungeheuer interessant, aber auch etwas abstrus und (was nicht zu verwundern ist) schwer zu verstehen“ fand.

Nach drei Semestern berichtete er, daß er sich fast ausschließlich mit Mathematik beschäftigt habe, ein Gebiet, an dem er immer mehr Gefallen fände, je mehr sich seine Kenntnisse darin erweiterten. Als seine Eltern und auch Prof. Hipp, mit dem er die ganze Zeit hindurch in Beziehung stand, ihm anrieten, von Mathematik zur einbringlicheren Jura umzusatteln, widersetzte er sich diesem Rat, sieht aber immerhin ein, daß es ihm schwerfallen würde, mit Mathematik allein seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Er habe — so argumentiert er — sich bislang mit Mathematik beschäftigt und werde dies auch hoffentlich weiter tun. Es gäbe ja viele Fächer des Erwerbs, die mathematische Kenntnisse voraussetzen, er werde unter diesen eines auswählen. Die Wahl, die er dann trifft, ist auf den ersten Blick sehr seltsam: Artillerieoffizier in der preußischen Armee! 

Der Entschluß bleibt merkwürdig, bis ein Brief des jungen Heeren die Erklärung gibt. Gebeten von Semper — zu der Zeit noch in Hamburg, ein Logis in Göttingen zu besorgen, teilt Heeren ihm in diesem Brief mit, daß er ein passendes Logis gefunden habe, auch könne — setzt er hinzu —  „dein Kriegsspiel gut darin stehen, ohne es allzu eng zu machen; du wirst das Brett doch wohl nicht mitbringen oder kannst dir hier ja ein etwas kleineres machen lassen.“ Aus diesem Brief und einem anderen, in dem ein die Gegen­seite dirigierender Freund genannt wird, geht hervor, daß der junge Semper sehr interessiert an militärischer Taktik und Strategie war und anscheinend berühmte Schlachten auf seinem Brett rekonstruierte. Daß dies keine jungenhafte Spielerei war, sondern, daß ein tiefer liegendes Interesse zugrunde lag, ergibt sich aus detaillierten Ratschlägen, die er in den revolutionären vierziger Jahren seinem Bruder über die gegen die angreifenden Dänen anzuwendende Taktik gab, ergibt sich auch aus einem Brief von Göttingen, in dem er gesteht, daß sein „sehnlicher Wunsch, die Trauerhöhen von Waterloo zu sehen“, mit ein Grund für eine Reise nach den Niederlanden war. 

Wirklich bedeutsam in diesem Zusammenhang ist aber die Tatsache, daß — gedrängt, seinen Beruf zu wechseln — seine erste Wohl auf eine Laufbahn fiel, die nicht im Entferntesten irgend etwas mit Kunst zu tun hatte — er war für einen Beruf, in dem seine Neigung zur Mathematik und seine neu erworbenen Kenntnisse in mathematischen Kalkulationen (sei es in Verbindung mit Strategie oder im Flug von Projektilen) im Mittelpunkt seines neuen Berufslebens stehen würden. 

Jedoch am Ende kam es gar nicht dazu: Das preußische Offizierskorps nahm keine Bürgerlichen auf. Daraufhin nahm er eins mehr realistische Haltung an und wählte Hydraulik als das Gebiet, wo ihm seine mathematischen Kenntnisse nützlich sein würden. Mit einem Empfehlungsschreiben von Thibaud stellte er sich beim Oberbauinspektor in Düsseldorf vor (1825). Ob dieser Versuch erfolglos war (wie auch ein anderer beim Delfter Kanal-Institut) oder ob er auf ein späteres Inbetrachtziehen vertröstet wurde — er beendete 6 Monate später seine Studien, verließ Göttingen und reiste nach München.

Die Trennung von Göttingen fiele ihm schwer, schrieb er Ende 1825 seinem Bruder Wilhelm, das letzte Semester sei die schönste Periode seines Lebens gewesen, zu der er sich stets mit Sehnsucht zurückwünschen werde, und er bat ihn, in dem Koffer mit  seinen Sachen „aus dem großen Konvolut von Heften, die er aus der Schule mitgebracht habe, auch die Schriften über Archäologie der Griechen und Römer einzupacken — sie sind recht gut und können mir nützen.“ 

All dies hört sich nicht so an, als ob er sich entschlossen hätte,  Architekt zu werden. Er schrieb sich zwar in die Architekturklasse der Akademie ein und mag einige Vorlesungen besucht haben, doch konnten sie ihm nicht viel bedeutet haben, da er in einem langen Brief, den er später von Paris an seinen Münchner Freund schrieb, weder die Vorlesungen noch Gärtner erwähnte.

 Ich glaube, er mag einen anderen, mehr plausiblen Grund gehabt haben, nach München zu gehen: Das grundlegende Werk über die Hydraulik "Die. theoretisch-praktische Wasserbaukunst“ war kürzlich in 2. Auflage  in München erschienen: der Verfasser war C. F. von WIEBEKING, Ministerialrat für die Abteilung Wasser- und Straßenbau. Er war eine Autorität auf diesem Gebiet und Mitglied der Akademie. Obgleich er 1817 in den Ruhestand trat und Semper deshalb nicht hoffen konnte, von Wiebekings Lehrtätigkeit zu profitieren, ist es dennoch möglich, daß es eine auf Wiebekings Ruf und Werke gegründete Nachfolge gab und daß Semper aus diesem Grund München als den richtigen Ort gewählt hatte, wo er seine Kenntnisse in der Wasserbaukunst erweitern und damit seine Aussichten auf Anstellung verbessern konnte. Wie dem auch sei — er blieb nicht lange in München. Er war, wie er es ausdrückt, „in einem schlechten Verhältnis mit der Polizei, die mir stets auf den Fersen war."  Deshalb hielt er es nach einem Duell für ratsam, bayerisches Gebiet zu verlassen und in Heidelberg die Dinge abzuwarten. Dort traf er alte Freunde, machte neue Bekanntschaften, war von vielen geliebt — kurz, die Heidelberger Zeit war „einer der Lichtpunkte seines Lebens". Nach zwei Monaten, hoffend, daß die Lage in Bayern sich beruhigt hätte, reiste er zurück, aber nicht nach München. Er wanderte durch den Odenwald nach Würzburg, Nürnberg und schließlich nach Regensburg, wo er sich in ein Haus in der Nähe seines Schulfreundes Bülau einquartierte. Bülau arbeitete zusammen mit dem Architekten Popp an der Aufnahme des Regensburger Dorns. 

In einem Brief bemerkt Semper ausdrücklich, daß er an dieser Arbeit nicht teilnahm, stattdessen aber die Zeit nutzte, seine Kenntnisse in Hydrostatik und Hydraulik zu erweitern, sicherlich in der Hoffnung, daß sich ihm schließlich doch eine Stellung als Ingenieur in diesem Fach bieten würde. In der restlichen Zeit begleitete er den Architekten des Fürsten von Thurn und Taxis auf dessen Inspektionsreisen. Er bezweifelte, daß er viel Nutzen zog von diesen Touren, aber genoß die Fahrten durch die schöne Landschaft in Begleitung eines Mannes, der bald sein Freund wurde. Er lernte Mitglieder des Landadels kennen, liebenswürdige Menschen, die er sehr schätzte.

München besuchte er nur zweimal. Frei und glücklich, genoß er das Leben vollauf — allerdings mit dem Resultat, daß er wiederum in Liebeshändel verwickelt war mit eifersüchtigen Ehemännern und Duellen, was ihn wieder mit der Polizei zusammenbrachte. Als sein Freund Heeren auf dem Weg nach Paris durch Regensburg kam, entschloß sich Semper, mit ihm zu reisen, nicht nur, um auf diese Weise der polizeilichen Beobachtung zu entgehen, sondern auch weil er „die eiserne Notwendigkeit, einmal recht fleißig sitzen zu müssen“, einsah. Mit all diesen Einzelheiten jetzt bekannt gewor­den, ist es klar, daß Semper unmöglich ein Gärtner-Schüler ge­nannt werden kann. Eine Woche vor Weihnachten 1826 traf er in Paris ein, 23 Jahre alt, bewandert in technischem Wissen, geeignet für eine Ingenieurstellung und möglicherweise mit etwas Erfahrung in baulichen Dingen. Entschlossen, nicht mehr seine Zeit zu vertrödeln, besuchte er die Privatschule, die F. Chr. GAU kurz vorher eröffnet hatte. Er sei „ein vortrefflicher Mann“, von dem er schon ziemlich profitiert habe“.

Alles, was die Weltstadt bieten konnte, zog ihn natürlich an. Ich glaube, es war zu dieser Zeit (er hatte immer noch keine Stellung), daß seine häufigen Besuche im Jardin des Plantes stattfanden, von denen er später in einem oft zitierten Passus eines Londoner Vortrages sprach: " ... wie er aus dem sonnigen Garten wie durch magische Gewalt in jene Räume gezogen wurde, in denen Baron Cuviers Sammlungen von fossilen Überresten des Tierreiches der Vorwelt in langen Reihen ausgestellt sind, zusammen mit den Skeletten der jetzgen Schöpfung. Dort sehen wir, wie die Natur vorgeht, wie dasselbe Skelett sich fortwahrend wiederholt, jedoch mit unzähligen Variationen, modifiziert durch die stufenweise Entwicklung der Individuen“.

Es war bedauerlich, daß Hans Semper in der Biographie seines Vaters diesen Passus zitierte als Beweis, daß Semper nur einen Schritt von Darwins Theorie entfernt war, daß er sogar diesen Schritt schon vor Darwin gemacht hätte und daß seine, Darwin gleichenden, evolutionären Ideen vom Studium von Cuviers Werk herrührten. Hans Sempers Behauptung wurde lange Zeit in der Literatur über Semper wiederholt, und als sie schließlich mit Recht widerlegt wurde, weil Cuviers konservativer Glaube in die Beständigkeit der Spezien nichts gemein hatte mit Darwinscher Evolution, hatte dies zur Folge, daß die Möglichkeit oder Wahrscheinlichkeit von Cuviers lang anhaltendem Einfluß auf Semper geleugnet oder zumindest als unbedeutend angesehen wurde. 

G. CUVIER, daran muß man erinnern, war zur Zeit von Sempers Ankunft in Paris vielleicht die meistgefeierte Persönlichkeit der Pariser Intelligenz. Sein Werk und das Museum waren international berühmt, besonders in Deutschland. Semper — geschult, an technische und wissenschaftliche Probleme mit den Methoden der Mathematik und einer präzisen Beobachtung heranzugehen — war tief beeindruckt von der Art, mit der Cuvier Ordnung in die scheinbar willkürliche VieIfaIt von Tieren gebracht hatte. Wie so viele andere auch, wird Semper das durch die vergleichende Methode vollzogene große klassifikatorische Werk als einen genialen Wurf bewundert haben. Balzac sprach einmal von Cuvier als „le plus grand poete de notre siecle“ und dachte daran, die menschliche Gesellschaft mit dem Tierreich zu vergleichen. „Die Erkenntnis“, schreibt Cuviers Biograph, „daß organische Natur geordnet und doch mannigfaltig ist, war sicherlich einer von Curviers größten Beiträgen zur Naturwissenschaft.“ Der Überblick über die langen Reihen von Tausenden von Tier­skeletten ließ Semper den ungeheuren Wert der Klassifizierung erkennen und löste in ihm den Gedanken aus, daß die gleiche Methode Ordnung bringen möge in die Vielfalt der Bauten, die ihn in Gaus Lehrstunden verwirrt haben mag.

Dennoch strebte Semper immer noch seinem Hauptziel nach, sich für einen Posten als Hydroingenieur zu qualifizieren. Im Mai 1827 bat er seinen Freund Dobner um Mitteilung, welche Chancen er hoben würde, ein Examen (scheinbar ein bayerisches) zu bestehen, für welches er zumindestens die notwendigen Vorkenntnisse habe: Mathematik, Statik, Hydraulik; von den Kenntnissen der schönen Baukunst fehle ihm zwar vieles, allein es sei zu Recht kein rigorosum verlangt. Die Antwort scheint entmutigend gewesen zu sein, da er im Mai des folgenden Jahres sich noch einmal um die Stelle eines Hilfsingenieurs in Bremerhaven bemühte — diesmal erfolgreich. Dennoch fand er die Arbeit unzufriedenstellend, so kehrte er nach über einem Jahr nach Paris zurück. Doch jetzt sah alles anders aus, er wußte, was er wollte — ein Architekt werden. Er studierte ernsthaft, wurde tatsächlich Gaus vielversprechendster Schüler. 

Seine baukünstlerische Ausbildung umfaßte nicht mehr als zwei durch lange Abwesenheit getrennte Perioden, von denen jede kaum länger als ein Jahr dauerte — eine erstaunlich kurze Ausbildung, verglichen mit der seiner Zeitgenossen. Das neue Bild seiner Studienzeit ermöglicht (klarer vielleicht als bisher) zu erkennen, welch große Begabung er gehabt haben muß für den Beruf, den er am Ende erwählte.